Dank wirksamer Impfungen gilt die Kinderlähmung als nahezu ausgerottet. Jedes Jahr erkranken weltweit nur noch wenige hundert Menschen. Doch Wissenschaftler der Universität Bonn melden nun zusammen mit Kollegen aus Gabun einen alarmierenden Befund: Bei Opfern eines Ausbruchs im Kongo aus dem Jahr 2010 fanden sie ein mutiertes Virus, das den Impfschutz erheblich unterlaufen konnte. Auch in Deutschland hätte der Erreger vermutlich zahlreiche Menschen anstecken können. Die Ergebnisse erscheinen nun in der Zeitschrift PNAS.
Die Kinderlähmungs-Epidemie im Kongo im Jahr 2010 verlief besonders schwer. 445 Menschen wurden nachweislich infiziert, meist junge Erwachsene. Bei 209 von ihnen endete die Krankheit tödlich. Diese hohe Sterblichkeit ist überraschend. Dazu kommt, dass viele der Erkrankten offensichtlich geimpft worden waren: Bei Befragungen erinnerte sich knapp die Hälfte der Patienten, die vorgeschriebenen drei Impfdosen erhalten zu haben. Bislang galt die Impfung als hochwirksame Waffe, um den Erreger der Poliomyelitis (so die fachsprachliche Bezeichnung) in Schach zu halten.
„Wir haben Polio-Viren aus Verstorbenen isoliert und genauer untersucht“, erklärt Dr. Jan Felix Drexler, der inzwischen in den Niederlanden arbeitet. Er hat die Studie während seiner Tätigkeit am Institut für Virologie des Universitätsklinikums Bonn unter Leitung von Prof. Dr. Christian Drosten zusammen mit seinen Gabuner Kollegen Dr. Gilda Grard und Dr. Eric Leroy durchgeführt. „Der Erreger trägt eine Mutation, die seine Gestalt an einer entscheidenden Stelle verändert.“ Resultat: Die durch die Impfung induzierten Antikörper können das mutierte Virus kaum noch erkennen und außer Gefecht setzen.
Die Forscher haben untersucht, wie erfolgreich der neue Erreger dem Immunsystem entgeht. Dazu haben sie unter anderem Blutproben von 34 Medizinstudenten der Uni Bonn getestet. Alle waren in ihrer Kindheit mit den üblichen Methoden gegen Polio geimpft worden. Und zwar durchaus mit Erfolg, wie ein erster Test zeigte: Mit „normalen“ Kinderlähmungs-Viren wurden die Antikörper im Blut der Probanden problemlos fertig. Anders sah es beim mutierten Virus aus; hier war die Immunreaktion deutlich schwächer. „Wir schätzen, dass jeder Fünfte unserer Bonner Testpersonen von dem neuen Polio-Virus hätte infiziert werden können, vielleicht sogar jeder Dritte“, sagt Prof. Drosten.
Ausrottung möglich
Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat sich vorgenommen, das Polio-Virus in den nächsten Jahren auszurotten. Vorbild sind die Pocken – dank einer konsequenten Impfstrategie gilt die Erde seit 1980 als pockenfrei. Im Prinzip stehen die Chancen gut, dass Ähnliches wieder klappen könnte: Auch das Kinderlähmungs-Virus kann nur von Mensch zu Mensch weiter gegeben werden. Es gibt also keine Erreger-Reservoirs in Tieren, von denen ausgehend sich die Krankheit immer wieder ausbreiten könnte. Ähnlich wie bei den Pocken bieten die Polio-Impfstoffe zudem einen ausgezeichneten Schutz. Das gilt allerdings nicht, wenn das Virus mutiert. „Wenn so ein veränderter Erreger auf eine Bevölkerung trifft, die nicht konsequent genug geimpft wurde, dann wird es gefährlich“, warnen die Wissenschaftler.
Die Polio-Epidemie im Kongo konnte durch ein massives Impfprogramm und Hygiene-Maßnahmen gestoppt werden. Selbst die aktuellen Impfstoffe scheinen also gut genug zu wirken, wenn sie zeitnah und konsequent verabreicht werden. Dennoch sei der neue Erreger ein Warnsignal: „Wir dürfen die Hände nicht in den Schoß legen“, mahnen die Wissenschaftler. „Wir müssen die Impfquote weiter erhöhen und neue, potentere Impfstoffe entwickeln. Nur so besteht die Chance, die Kinderlähmung dauerhaft zu besiegen.“
Publikation: Jan Felix Drexler, Gilda Grard, Alexander N. Lukashev, Liubov I. Kozlovskaya, Sindy Böttcher, Gokhan Uslu, Johan Reimerink, Anatoly P. Gmyl, Raphaël Taty-Taty, Sonia Etenna Lekana-Douki, Dieudonné Nkoghe, Anna Maria Eis-Hübinger, Sabine Diedrich, Marion Koopmans, Eric M. Leroy und Christian Drosten: Robustness against serum neutralization of a Poliovirus type 1 from a lethal epidemic of poliomyelitis in the Republic of Congo, 2010; PNAS; DOI: 10.1073/pnas.1323502111
Quelle/Text/Redaktion: Universität Bonn
Stand: 19.08.2014