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Künstliches Licht lässt Vögel länger nach Nahrung suchen

Künstliches Licht verlängert die Nahrungsaufnahme bei Amseln. Vögel im Stadtzentrum sind deshalb nicht nur wesentlich früher, sondern auch länger aktiv als ihre Verwandten in dunkleren Stadtvierteln. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung an rund 200 Amseln in Leipzig, die im Rahmen des Forschungs-verbundes „Verlust der Nacht“ durchgeführt wurde.

Die Studie deute darauf hin, dass künstliches Licht einen bedeutenden Einfluss auf die Aktivitätszeiten von städtischen Amseln habe und damit die natürlichen Zyklen beeinflusse, schreiben Wissenschaftler des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) und der Universität Leipzig im Fachblatt Journal of Ornithology.

Bereits im Vorjahr konnten die Wissenschaftler zeigen, dass Straßenlärm und künstliches Licht dafür sorgen, dass Vögel im Stadtzentrum von Leipzig am Morgen bis zu fünf Stunden früher aktiv werden als ihre Verwandten in ruhigeren und unbeleuchteten Bereichen der Stadt Leipzig. Für die Studie hatten die Wissenschaftler die Amsel (Turdus merula) ausgewählt, da diese Vogelart ursprünglich ein Waldvogel war, sich jedoch seit dem frühen 19. Jahrhundert gut an die Bedingungen in Städten angepasst hat. Sie ist dort inzwischen weit verbreitet und durch ihren markanten Gesang leicht zu identifizieren.

In den Jahren 2011 bis 2013 wurden in einem 215 Hektar großen Gebiet in Leipzig über 200 Amseln mit Genehmigung der Behörden gefangen. Das Untersuchungsgebiet umfasste dabei einen drei Kilometer langen südwestlich orientierten Gradienten vom Stadtzentrum über den Clara-Zetkin-Park bis hin zum die Stadt durchziehenden Auwald. Aufgrund der Straßen-beleuchtung ist es in den Grünflächen am Innenstadtring nachts wesentlich heller als im naturnahen unbeleuchteten Auwald.

Die gefangenen Amseln wurden vermessen, individuell mit Vogelringen markiert und wieder frei gelassen. Einige von ihnen wurden gezielt an 35 Tagen zwischen März und Juli bei ihrer Nahrungssuche beobachtet. „An den kurzen Tagen im März beendeten die Amseln im Wald ihre Nahrungssuche fast eine Stunde eher als ihre Artgenossen in der beleuchteten Innenstadt. Je länger die Tage wurden, umso geringer wurde der Unterschied. Im Sommer waren es am Ende nur noch wenige Minuten Unterschied zwischen Stadt und Wald“, berichtet Anja Ruß vom UFZ.

Bei den Beobachtungen fiel auf, dass in der beleuchteten Innenstadt die Männchen deutlich häufiger als letzte den Platz der Nahrungssuche verließen, während es im Wald keine Abweichung vom allgemeinen Geschlechterverhältnis gab. Die Forscher führen dies auf die unterschiedliche Lichtsensibilität der Geschlechter zurück. Von den Amselhähnen ist bekannt, dass diese insgesamt etwas größer sind als die Hennen. Dies gilt auch für die Augen. „Größere Augen ermöglichen ein besseres Sehen bei schlechten Lichtverhältnissen.

Die Männchen haben es daher in der Dämmerung etwas leichter bei der Nahrungssuche als die Weibchen. Das künstliche Licht in der Stadt fördert diese Unterschiede zwischen den Geschlechtern noch zusätzlich und sorgt dafür, dass die Männchen abends länger aktiv sein können“, erklärt Dr. Reinhard Klenke vom UFZ.

Die Studie unterstreicht, dass künstliches Licht in der Nacht eine wichtige Rolle für den Biorhythmus der Amseln in der Stadt spielt. Es ermöglicht den Vögeln, ihre täglichen Aktivitäten auszudehnen. Dieser Effekt nimmt aber ab, je länger die Tage im Sommer werden. Im Gegensatz zu früheren Vermutungen scheinen Stadtamseln von dem künstlichen Licht und der zusätzlichen Zeit nicht körperlich zu profitieren. Zumindest konnten die Wissenschaftler keinen signifikanten Unterschied in der Körperkondition zwischen den beiden Gruppen für die Zeit der verlängerten Nahrungssuche feststellen und nehmen an, dass neben dem Licht auch die Verfügbarkeit und Qualität des Futters sowie das Risiko, gefressen zu werden, eine große Rolle spielen.

Während Luft-, Lärm- oder Gewässerverschmutzung seit langem im öffentlichen Bewusstsein verankert sind und entsprechend wissenschaftlich untersucht werden, wächst erst langsam ein Problembewusstsein für die zunehmende Verdrängung der natürlichen Dunkelheit der Nacht durch künstliches Licht und die dadurch erzeugten weitreichenden Veränderungen natürlicher Prozesse. Diese betreffen nicht nur empfindliche naturnahe Ökosysteme, sondern reichen bis weit hinein in die menschliche Gesellschaft.

In den vergangenen drei Jahren hatte dazu der interdisziplinäre Forschungsverbund „Verlust der Nacht“ unter Leitung des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) Pionierarbeitet geleistet. Im Teilprojekt „BILL“ (Birds in ILluminated Landscapes) hatte die Arbeitsgruppe von Dr. Reinhard Klenke am UFZ vergleichende Untersuchungen unterschiedlicher Einflüsse von künstlichem Licht auf Vogelpopulationen durchgeführt.

„Zu den Auswirkungen von Licht oder Lärm auf Vögel hat es bereits einige Studien gegeben. Unsere Studien haben aber erstmals das komplexe Zusammenspiel in der Kombination der beiden Faktoren Licht und Lärm analysiert, die nicht nur für uns Menschen Stress bedeuten, sondern auch für die Tiere in der Stadt“, unterstreicht der Biologe, der die Idee zur Studie hatte und die Auswirkungen auf die Fitness der Vögel künftig weiter untersuchen möchte.

Licht beeinflusst nicht nur den Biorhythmus von Lebewesen in der Stadt. Auch der Himmel in vielen Naturschutzgebieten ist durch die benachbarten Städte nachts inzwischen deutlich heller als ursprünglich. Bevölkerungswachstum und steigende Urbanisierung werden dieses Problem in vielen Regionen der Welt verschärfen. Dazu kommen technische Trends wie der zunehmende Einsatz von LED-Leuchten mit Lichtspektren, die sich vom natürlichen Licht zum Teil stark unterscheiden oder auch der zunehmende Einsatz von Licht als Gestaltungselement im Stadtbild. Umso wichtiger wird es, die Auswirkungen dieser Entwicklungen auf Mensch und Tier zu untersuchen.

Publikation:
Anja Russ, Annika Rüger, Reinhard Klenke (2014): Seize the night: European Blackbirds (Turdus merula) extend their foraging activity under artificial illumination. Journal of Ornithology.

Die Studie wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sowie von der Helmholtz-Gemeinschaft im Rahmen der Graduiertenschule HIGRADE gefördert.

Wasserstoffkern mit Quantensensor nachgewiesen

Wissenschaftlern der Universität Leipzig und der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich ist es gelungen, das Magnetfeld des unvorstellbar winzigen Kerns eines Protons nachzuweisen. Dafür wurden an der ETH quantenmechanische Effekte genutzt, wie Prof. Dr. Jan Meijer vom Institut für Experimentelle Physik II der Universität Leipzig sagt. „Die Methode erlaubt, das Magnetfeld des Kerns eines einzelnen Wasserstoffatoms in einem Abstand von einem Nanometer nachzuweisen und dessen Ort zu bestimmen.

Das NV-Zentrum (roter Pfeil) kann einzelne kleine Magnetfelder, die durch Protonen -dem Kern des Wasserstoffatoms - produziert werden (blaue Pfeile) auslesen. Die NV-Zentren sollten sich möglichst nahe an der Oberfläche befinden. Mit Mikrowellen und Laser wird der Sensor berührungsfrei ausgelesen. Foto: Prof. Christian Degen/ETH Zürich
Das NV-Zentrum (roter Pfeil) kann einzelne kleine Magnetfelder, die durch Protonen -dem Kern des Wasserstoffatoms – produziert werden (blaue Pfeile) auslesen. Die NV-Zentren sollten sich möglichst nahe an der Oberfläche befinden. Mit Mikrowellen und Laser wird der Sensor berührungsfrei ausgelesen.
Foto: Prof. Christian Degen/ETH Zürich

Dabei funktionieren die Sensoren bei Raumtemperatur und sind somit für viele Anwendungen in der Industrie und der Wissenschaft nutzbar“, erklärt der Physiker. Die Forscher aus Leipzig und Zürich haben ihre neuen Erkenntnisse in der jüngsten Ausgabe des renommierten Fachmagazins „Science“ veröffentlicht.

Die Magnetfeldsensoren bestehen aus nur einem Stickstoffatom sowie einer Fehlstelle (NV-Zentrum) im Diamantgitter. Wie die Physiker herausfanden, können die Farbzentren auch sehr nahe der Oberfläche eines Diamanten erzeugt werden. Dadurch lassen sich auch Magnetfelder einzelner Atome auf der Oberfläche detektieren. Diese sogenannten NV-Zentren werden dabei berührungsfrei mit Hilfe von Licht ausgelesen. „Dies macht sie für viele zukünftige Anwendungen einsetzbar. Denn überall in der Praxis, wo Magnetfelder mit extrem hoher Präzision gemessen werden müssen, kann dieser Effekt genutzt werden“, sagt Prof. Christian Degen von der ETH.

So sollen durch die neuen Erkenntnisse des deutsch-schweizerischen Forscherteams künftig wesentlich empfindlichere Biosensoren als bisher gebaut werden, wie Meijer erläutert. „Eigentlich arbeiten wir an einem Quantencomputer und versuchen dabei, jede mögliche Störung wie etwa durch das Magnetfeld einzelner Protonen zu vermeiden. In dieser Technik wurden die Störeffekte quasi als Messsignal genutzt“, sagt Meijer.

Um einzelne Wasserstoffatome an der Oberfläche eines Diamanten aufzuspüren, mussten die NV-Zentren möglichst nahe an der Oberfläche erzeugt werden. „Gelungen ist dies mit einer speziellen Oberflächenbehandlung und einem sogenannten Implanter. Er erlaubt es, einzelne Atome hochpräzise nur wenige Atomlagen tief zu platzieren“, sagt Dr. Sebastien Pezzagna, Physiker der Universität Leipzig. Die Forscher arbeiten nun daran, die Sensoren weiter zu verbessern, um damit einzelne Molekülstrukturen zu analysieren.

Fachveröffentlichung:
Single-proton spin detection by diamond magnetometry
Doi: 10.1126/science.1259464

Mathematiker stellen neuen Rekord auf

Prof. Dr. Jens Vygen vom Forschungsinstitut für Diskrete Mathematik der Universität Bonn. (c) Foto: Barbara Frommann/Uni Bonn
Prof. Dr. Jens Vygen vom Forschungsinstitut für Diskrete Mathematik der Universität Bonn. (c) Foto: Barbara Frommann/Uni Bonn

Wie lässt sich eine Rundreise organisieren?

Wie lässt sich eine Rundreise durch verschiedene Städte auf dem kürzesten Weg organisieren? Darüber zerbrechen sich nicht nur Paketdienste, Handlungsreisende und Touristen den Kopf, sondern seit vielen Jahrzehnten auch Mathematiker. Eine endgültige Lösung des Problems für eine große Zahl von Orten ist noch nicht gelungen, aber Forscher der Universitäten Bonn und Grenoble haben einen Algorithmus gefunden, der mit Abstand die beste Näherung liefert. Sie berichten in der Fachzeitschrift „Combinatorica“ über ihre Ergebnisse, deren Druckausgabe nun vorliegt.

Wie lässt sich die Reihenfolge für den Besuch mehrerer Orte so wählen, dass die gesamte Route möglichst kurz ist? „Dieses Rundreiseproblem klingt trivial, ist aber eine harte Nuss“, sagt Prof. Dr. Jens Vygen vom Forschungsinstitut für Diskrete Mathematik der Universität Bonn. Seit mehr als 60 Jahren zerbrechen sich Mathematiker darüber den Kopf – ohne es bislang gelöst zu haben. „Dieses populäre Problem hat seit Jahrzehnten eine zentrale Bedeutung für die mathematische Optimierung: Viele ursprünglich dafür entwickelte Methoden kamen später auch bei ganz anderen Problemen zum Einsatz“, erläutert sein Kollege Prof. Dr. András Sebö von der Universität Grenoble. „Es müssen beim Rundreiseproblem auch nicht unbedingt Städte sein, die durchlaufen werden sollen – sehr oft sucht man beispielsweise auch eine optimale Reihenfolge von Arbeitsschritten.“

Komplexität überfordert sogar Supercomputer

Mit wenigen Orten lässt sich die Aufgabe noch relativ einfach lösen, indem man die Weglängen aller möglichen Rundreisen berechnet und dann die kürzeste auswählt. Mit der Zahl der zu besuchenden Orte nimmt aber die Komplexität des Problems und damit die Rechenzeit rasch zu und überfordert dann auch die schnellsten Supercomputer. Mit 15 Städten gibt es bereits mehr als 43 Milliarden verschiedene Rundreisen, aus denen die kürzeste auszuwählen ist. Mit 18 Städten steigt die Zahl der Möglichkeiten auf über 177 Billionen an – und so weiter.

„Viele Mathematiker vermuten, dass das Rundreiseproblem für eine große Anzahl von Städten überhaupt nicht lösbar ist“, berichten die beiden Wissenschaftler. Das ist aber noch nicht bewiesen. Bislang ist es den Mathematikern jedoch gelungen, sich mit verschiedenen Verfahren der optimalen Route anzunähern. Es handelt sich dabei um Kompromisslösungen mit dem Vorteil einer überschaubaren Rechenzeit, aber Abstrichen hinsichtlich der kürzesten Weglänge. Wenn zum Beispiel vorgegeben ist, dass die Gesamtstrecke insgesamt doppelt so lang sein darf wie die optimale Route, dann lässt sich das relativ einfach umsetzen: Zu jedem Punkt ist dann ein Hin- und Rückweg erlaubt.

Neuer Rekord liegt beim 1,4-fachen der optimalen Strecke

Lange Zeit hielt Nicos Christofides den Rekord: 1976 veröffentlichte er einen Algorithmus, der eine Rundreise ergab, die maximal um die Hälfte länger als die optimale Tour ist. 35 Jahre später gelang es Mathematikern aus Nordamerika erstmals, diese Annäherung im wichtigsten Spezialfall zu unterbieten, wenn auch nur um eine Winzigkeit. Nun stellen die Professoren Jens Vygen von der Universität Bonn und András Sebö von der Universität Grenoble (Frankreich) einen neuen Rekord auf: Gemeinsam beschreiben sie einen völlig neuen Algorithmus, der die bisherige Bestmarke deutlich auf das 1,4-fache der optimalen Rundreisestrecke verkürzt.

Dabei brüteten die beiden Wissenschaftler während eines Forschungsaufenthaltes von Prof. Vygen in Grenoble gar nicht über dem Rundreiseproblem. „Wie so häufig war Zufall im Spiel“, erzählt der Mathematiker der Universität Bonn. Zusammen mit seinem Kollegen aus Frankreich ging er der Frage nach, wie sich zum Beispiel Strom- oder Telekommunikationsnetzwerke so optimieren lassen, dass es bei einem Kabelriss nicht zu einem Ausfall kommt. „Aber wie viele Mathematiker haben wir das Rundreiseproblem ständig im Hinterkopf“, berichtet Prof. Vygen. Deshalb lag es nahe, den Ansatz für das Netzwerkproblem auch auf die ähnliche Rundreisefrage anzuwenden.

Prof. Sebö und Prof. Vygen entdeckten eine neue Struktur: die sogenannte „Schöne-Ohren-Zerlegung“. Wie bei einer Zwiebel gingen die Wissenschaftler bei der Verbindung der Orte von außen nach innen vor. „Das funktioniert nur, wenn man die richtige Zwiebelstruktur erfasst hat – und die sieht man der Landkarte mit den Straßen und Orten zunächst nicht an“, sagt Prof. Vygen. Der Algorithmus aus Bonn und Grenoble mit den bislang besten Ergebnissen für das Rundreiseproblem lässt sich nicht nur in der Logistikbranche nutzen: Zum Beispiel bei Himmelsdurchmusterungen der Astronomen ist ebenfalls die kürzeste Route von Stern zu Stern gefragt.

Publikation: Shorter tours by nicer ears: 7/5-approximation for the graph-TSP, 3/2 for the path version, and 4/3 for two-edge-connected subgraphs, Fachjournal Combinatorica 34 (5) (2014), 597-629, online-Version vorab (DOI: 10.1007/s00493-011-2960-3)

Jugendliche erobern die Städte

Professor Dr. Rachid Ouaissa ist Mitherausgeber eines Sammelbandes über die arabische Jugend. (Foto: Holger Sauer)
Professor Dr. Rachid Ouaissa ist Mitherausgeber eines Sammelbandes über die arabische Jugend.
(Foto: Holger Sauer)

Arabische Jugendliche finden neue Formen der  des politischen Widerstands

Nach der „Arabellion“: Arabische Jugendliche finden neue Formen der Selbstbehauptung und des politischen Widerstands, die den Alltag in Städten Nordafrikas und des Nahen Ostens prägen. Was treibt die jungen Leute um, wie trotzen sie staatlichen Domestikationsversuchen? Ein Sammelband Marburger und Leipziger Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler bietet einen differenzierten Blick auf Jugendbewegungen von Kairo und Ramallah bis Algier und leuchtet das breite Spektrum des Jugendlichseins aus: „Jugendbewegungen. Städtischer Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt“, herausgegen von Rachid Ouaissa  und Jörg Gertel (transcript-Verlag Bielefeld 2014).

Seit dem „Arabischen Frühling“ erleben fast alle Länder zwischen Marokko und Syrien lokale Proteste, spontane Aufstände und Massendemonstrationen. Die arabischen Großstädte sind Orte, an denen junge Leute Widerstand und Protest gegen Ungerechtigkeit, Willkür, Armut und Ausgrenzung sichtbar machen. Denn, wie die Herausgeber in ihrem einleitenden Beitrag verdeutlichen, „gerade die Metropolen und Megacities des globalen Südens wie Kairo oder Istanbul zeichnen sich durch Problemballungen auf engstem Raum aus. Ungleichheit und Ausgrenzung werden auch für Jugendliche immer sichtbarer und erlebbarer.“

Aus welchen sozioökonomischen Bedingungen heraus agieren Jugendliche, wie verorten sie sich sozial und kulturell? Welche Handlungsspielräume können sie sich trotz aller wirtschaftlichen Zwänge und staatlicher Kontrolle im Alltag erkämpfen? Wie verändern Widerstand und Protest politische Ordnungen und Gesellschafts-entwürfe? Die Beiträge des Sammelbandes beschränken sich in ihren Antworten nicht allein auf die Massenbewegungen der jüngsten Vergangenheit. Widerstand, so formulieren die Herausgeber, ist weit mehr als nur das Zusammenkommen in großen Kundgebungen: „Alltag kann ohne Widerstand auskommen, doch Widerstand kann alltäglich werden.“

Ouaissa und Gertel sowie ihre Autorinnen und Autoren versammeln Stimmen von Jugendlichen, die bisher kaum gehört wurden. Der erste Teil des Bandes führt konzeptionell in die Themen Jugend, Widerstand und Stadtentwicklung ein. Darauf folgen Fallstudien: im zweiten Teil zu Nordafrika und im dritten Teil zum Nahen Osten. Diese Studien beruhen auf jahrelangen Feldforschungen und intensiven Gesprächen vor Ort.

So nimmt Jörg Gertel die Ursachen von Protestaktionen in Nordafrika und dem Nahen Osten in den Blick. Sie liegen, so argumentiert der Sozialgeograf, in neoliberaler Globalisierung, einer dramatischen Privatisierungswelle sowie wachsender Armut und Schutzlosigkeit.

Neben der Gentrifizierung der Städte und der Marginalisierung großer Teile der Bevölkerung kommt es aber auch zunehmend zur Aneignung des öffentlichen Raums durch entrechtete und benachteiligte Städterinnen und Städter, wie Asef Bayat in seinem Beitrag ausführt: Straßen, öffentliche Plätze und Grünanlagen werden als Räume für Arbeit, Freizeit und Gemeinschaftsleben genutzt. Nicht durch konzertierte politische Mobilisierung, sondern durch informelle Alltagspraktiken behaupten die Einwohnerinnen und Einwohner ihr Recht auf die Stadt und treiben die Eliten in den Schutz sicherheitsüberwachter und privatisierter Rückzugsräume.

Wie sind die empirischen Befunde zu bewerten? Jugendliche in der arabischen Welt, so schreiben die Herausgeber, „sind Akteure des Widerstands“. Sie sind besser gebildet als jemals zuvor, verfügen über eine Medienkompetenz wie keine andere soziale Gruppe und sind durch ihre wachsenden Englisch-Kenntnisse fähig, sich mit Ausländern zu vernetzen. Die junge Generation entwickle neue, auch subversive Partizipations-, Mobilisierungs-und Protestformen. „Einerseits sind es individuelle, private Träume und hedonistische Lebensentwürfe, um die Jugendliche ringen“, konstatieren Ouaissa und Gertel. „Andererseits scheint die Jugend auch kollektiven Idealen verpflichtet zu sein.“

Professor Dr. Rachid Ouaissa lehrt Politik des Nahen und Mittleren Ostens am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien (CNMS) der Philipps-Universität, das die hessische Orientforschung bündelt. Er leitet ein interdisziplinäres Forschungsnetzwerk zur Neubewertung von Geschichte und Gegenwart des Mittleren Ostens und Nordafrikas, das vom Bundesforschungsministerium finanziert wird. Außerdem begleitet er mit seiner Arbeitsgruppe im Auftrag des Auswärtigen Amts den politischen Dialog mit gemäßigten islamistischen Parteien.

Professor Dr. Jörg Gertel studierte Geographie, Islamwissenschaft und Ethnologie in Marburg, Freiburg und Damaskus und hat an der Universität Leipzig den Lehrstuhl für Wirtschaftsgeographie und Globalisierungsforschung inne. Er war Sprecher des Sonderforschungsbereichs „Differenz und Integration“ (2007-2013).

Bibliografische Angaben: Jörg Gertel, Rachid Ouaissa (Hg.): Jugendbewegungen. Städtischer Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt, Bielefeld (transcript) 2014, ISBN 978-3-8376-2130-3, 400 Seiten, 19,99 Euro
Internet: http://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-2130-3/jugendbewegungen

Quelle/Text/Redaktion: http://www.uni-marburg.de

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