In Deutschland gibt es zu wenige Präventionsmaßnahmen gegen Übergewicht sowie einen Mangel an geeigneten Therapieangeboten für Menschen mit Adipositas. Oft herrscht die Meinung vor, dass starkes Übergewicht nur auf einen ungünstigen Lebensstil zurückgehe. Deshalb sind Betroffene im Gesundheitswesen und Alltag mit Benachteiligungen konfrontiert.
Das Kompetenznetz Adipositas (KNA) sieht einen besonderen Bedarf zur interdisziplinären Erforschung des Phänomens Adipositas und veröffentlichte seine Positionen zur Adipositas-Vorbeugung und -Behandlung sowie zum Problem der gesellschaftlichen Ablehnung der Betroffenen. Das Integrierte Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) AdipositasErkrankungen war am Positionspapier beteiligt und unterstützt dessen Forderungen.
Trotz der zunehmenden medialen Aufmerksamkeit, die das Thema Adipositas erfährt, gibt es auf Seiten der Gesundheitspolitik und der gesellschaftlichen Entscheidungsträger keine Strategie im Umgang mit Adipositas. So richten sich etwa Maßnahmen zur Prävention von Übergewicht meist an Einzelpersonen, die ihren Lebensstil ändern sollen (Verhaltensprävention). Längst ist aber bekannt, dass die Lebensverhältnisse der Menschen in konsumorientierten Ländern eine Gewichtszunahme stark begünstigen.
Deshalb ist verstärkt die Politik gefragt, einen gesünderen Lebensstil zu ermöglichen z. B. durch Verbesserungen in der Essensversorgung von Schulen oder bei den Bewegungsmöglichkeiten in Städten (Verhältnisprävention). Voraussetzung dafür ist allerdings politischer und gesellschaftlicher Wille. Verhaltens- ohne Verhältnisprävention ist nur unzureichend wirksam. Prof. Manfred J. Müller, Sprecher des KANN, fordert Wissenschaft und Politik auf, in Richtung gesunde Lebenswelt umzudenken und die gesamte Bandbreite der Adipositas-Ursachen zu berücksichtigen.
Obwohl fast ein Viertel der Erwachsenen hierzulande adipös ist, wird im Gesundheitssystem Adipositas nicht als Krankheit anerkannt. So hat auch die Adipositas-Behandlung trotz der wachsenden Herausforderung in den letzten Jahren kaum Verbesserungen erfahren, sie wird „im deutschen Gesundheitssystem massiv vernachlässigt“, so Prof. Hans Hauner, Sprecher des KNA. Während die kostspielige Behandlung der Adipositas-Folgeerkrankungen wie etwa Typ-2-Diabetes mellitus von Krankenkassen übernommen wird, bleiben therapeutische Maßnahmen wie z. B. Gewichtsmanagement eher ausgeblendet. Es fehlen v. a. langfristige, evaluierte
Therapiekonzepte. Als wirkungsvoll zeigten sich fächerübergreifende Behandlungsansätze, die Ärzte, Psychologen, Physiotherapeuten und Diätassistenten mit einbeziehen. Bisher übernehmen Krankenkassen die Kosten für Gewichtsmanagement nur bedingt. Bei Personen, die Adipositas-chirurgisch behandelt wurden, wird außerdem die unabdingbare Nachsorge von den Krankenkassen meist ausgeklammert. Um die Adipositas-Therapie zu verbessern, ist deshalb „ein gemeinsames multidisziplinäres Vorgehen von medizinischen Experten, Patientenvertretern, Krankenkassen und Versorgungsforschern nötig“, unterstreicht Hauner.
„Interdisziplinäre Forschung und Behandlung gehören zum Fundament des IFB. Verbesserungen für die Behandlung versprechen wir uns aus unserer derzeitigen Konzeptentwicklung mit Krankenkassen, die im Idealfall zur Blaupause für andere werden könnten“, so der wissenschaftliche Leiter des IFB, Prof. Michael Stumvoll.
Zu den körperlichen Adipositas-bedingten Erkrankungen kommt das psychische Leid der Betroffenen. Sie sind mit starker Stigmatisierung und Diskriminierung konfrontiert, d. h. sie begegnen negativen Meinungen, Vorurteilen bis hin zu tatsächlicher Benachteiligung in verschiedenen Lebensbereichen. Befragungen zeigen, dass etwa ein Fünftel der deutschen Bundesbürger explizite stigmatisierende Einstellungen aufweist und die Hälfte der Bundesbürger ihnen nicht widerspricht. Den Betroffenen wird vorgeworfen, faul, dumm und willensschwach zu sein. Zurückzuführen sind diese negativen Einstellungen darauf, dass die meisten Befragten annehmen, Adipositas sei selbst verschuldet. Nur eine Minderheit erkennt überhaupt genetische Ursachen der Adipositas an.
„Die Stigmatisierten selbst haben die Tendenz, das Stigma anzunehmen. Es vermindert ihren Selbstwert und zieht Ängste und Depressionen nach sich, wie neuere Studien zeigen“, betont Anja Hilbert, Professorin für Verhaltensmedizin am IFB Adipositas Erkrankungen. Hilbert beteiligte sich am Positionspapier und bietet auch eine Webseite zum Thema Stigmatisierung bei Adipositas an (www.adipositasstigma.de). Diese informiert sowohl wissenschaftlich als auch praxisnah über die Formen der Stigmatisierung und darüber, wie diese abgebaut werden können. Warum diese Schuldzuweisung bei Adipositas die Betroffenen viel stärker trifft als bei anderen Erkrankungen sei dabei noch unklar, erklärt Prof. Martina de Zwaan aus dem Vorstand des KNA.