Die genetische Herkunft der Europäer

(A) Schädel des ungefähr 8.000 Jahre alten männlichen Jägers und Sammlers von der Loschbour-Fundstelle in Luxemburg, dessen Genom sequenziert wurde. Bild: Dominique Delsate, Musée national d'Histoire naturelle de Luxembourg
(A) Schädel des ungefähr 8.000 Jahre alten männlichen Jägers und Sammlers von der Loschbour-Fundstelle in Luxemburg, dessen Genom sequenziert wurde. Bild: Dominique Delsate, Musée national d’Histoire naturelle de Luxembourg

Der Beginn der Landwirtschaft und die Domestizierung wilder Tiere, die vor rund 11.000 Jahren im Nahen Osten ihren Anfang nahmen, hatten einen enormen Einfluss auf das Leben der Menschen. Jäger und Sammler wurden vielerorts von sesshaften Bauern abgelöst. Die Populationen wuchsen und schufen so die Voraussetzungen für das Entstehen größerer Städte und komplexer Gesellschaften. Die archäologischen Nachweise legen nahe, dass sich der Übergang zur bäuerlichen Lebensweise in Mitteleuropa vor rund 7.500 Jahren vollzog, gleichzeitig mit dem Auftreten der Linienbandkeramik, der ersten jungsteinzeitlichen Kultur in Europa.

In der Forschung wird seit langem diskutiert, ob dieser Wechsel durch die Masseneinwanderung von Menschen aus dem Nahen Osten zustande kam, die innovative Technologien und domestiziertes Vieh mit nach Europa brachten, oder ob die neuen Kulturtechniken von benachbarten Populationen übernommen wurden. Ein internationales Forscherteam unter der Leitung der Universität Tübingen und der Harvard Medical School verfolgte nun anhand prähistorischer und moderner Genome, welchen genetischen Einflüssen die eingeborenen europäischen Jäger und Sammler ausgesetzt waren. Sie stießen auf drei Ahnengruppen, die bis heute am Genmix der Europäer beteiligt sind.

Die Forscher analysierten menschliche Genome von einem rund 7.000 Jahre alten frühen Bauern aus der Bandkeramik-Kultur in Stuttgart, einem etwa 8.000 Jahre alten Jäger von der Loschbour-Fundstelle in Luxemburg sowie sieben ebenfalls etwa 8.000 Jahre alten Jägern und Sammlern aus Motala in Schweden. Für den Vergleich mit heutigen Menschen erstellte das Forscherteam genomweite Daten von etwa 2.400 Menschen, die weltweit aus rund 200 verschiedenen modernen Populationen stammen.

Die Analyse zeigt, dass die genetischen Spuren heutiger Europäer auf drei – und nicht wie früher angenommen zwei – Stammgruppen zurückgehen. Die erste Gruppe umfasst die ursprünglichen Jäger und Sammler Westeuropas; die zweite bilden die frühen Bauern die aus dem Nahen Osten, vor etwa 7.500 Jahren nach Europa einwanderten, und die dritte Gruppe ist eine rätselhaftere Population, die den Norden Eurasiens bevölkerte und die Europäer mit den Ureinwohnern Amerikas genetisch verbindet.

„Die Mischung aus drei Ahnenpopulationen war eine große Überraschung“, sagt David Reich von der Harvard Medical School, einer der Forschungsleiter. „Wir hatten bereits früher eine alte genetische Verbindung zwischen heutigen Europäern und ursprünglichen Amerikanern gefunden“, setzt Nick Patterson vom Broad Institute in Boston hinzu, „diese Komponente war erstaunlicherweise weder beim Jäger aus Luxemburg noch bei den ersten europäischen Bauern zu finden.“ „Die dritte Gruppe erreichte Mitteleuropa erst nach den frühen Bauern”, erklärt Johannes Krause von der Universität Tübingen, der auch Direktor am Max-Planck-Institut für Geschichte und Naturwissenschaften in Jena ist. „Wir sind noch nicht sicher, wann die nordeurasischen Gene nach Zentral-Europa kamen. Auf alle Fälle später als die ersten Bauern.”

Auf der Grundlage der umfangreichen Daten von heutigen und früheren Menschen konnten die Forscher die Anteile früherer genetischer Komponenten bei heutigen Europäern berechnen. „Fast alle Europäer haben Ahnen aus allen drei Abstammungsgruppen“, sagt Losif Lazaridis von der Harvard Medical School. „Unterschiede gibt es bei den relativen Anteilen. Nordeuropäer tragen mehr Gene der Jäger und Sammler in sich – Menschen in Litauen bis zu 50 Prozent – und Südeuropäer mehr bäuerliche Ahnenanteile.“

Allerdings gibt er zu bedenken, dass auch die frühen Bauern selbst Jäger und Sammler zu ihren Ahnen zählten, sie seien keine reinen Nachfahren der ursprünglichen Einwanderer aus Nahost gewesen, die die Landwirtschaft in Europa einführten. Wie sich die nordeurasischen Ahnen mit den Europäern mischten, bleibt eine offene Frage: „Dies ist überall in Europa der kleinste Anteil, der nie mehr als 20 Prozent ausmacht, aber wir haben ihn in fast jeder untersuchten europäischen Gruppe gefunden und auch in Populationen aus dem Kaukasus und dem Nahen Osten. In Westeurasien muss nach der Neolithischen Revolution, also dem Aufkommen neuer Wirtschaftsweisen wie Ackerbau und Viehzucht zu Beginn der Jungsteinzeit, ein tiefgehender Umbruch stattgefunden haben.”

Die Forscher analysierten auch Gene, von denen der Einfluss auf das Aussehen bekannt ist, und gehen davon aus, dass einige der Jäger und Sammler blaue Augen und eine dunkle Haut hatten, während die frühen Bauern hellhäutiger und eher braunäugig waren. Sowohl die Jäger und Sammler als auch die frühen Bauern trugen eine hohe Anzahl an Kopien des Amylase-Gens in ihrem Genom, sodass anzunehmen ist, dass beide Populationen sich bereits an eine stärkereiche Ernährung angepasst hatten. Dagegen konnte keiner der frühen Menschen Milchzucker verdauen, Milch gehörte daher wahrscheinlich noch nicht zu den gängigen Nahrungsmitteln.

Mit den Genomdaten konnten die Forscher ein vereinfachtes Modell der Populationsgeschichte der anatomisch modernen Menschen außerhalb von Afrika in den vergangengen 5.000 Jahren erstellen. „Wir beginnen jedoch erst, die komplexe genetische Verwandtschaft zu unseren Vorfahren zu verstehen. Wir brauchen mehr genetische Daten von früheren Menschen, nur so können wir die Fäden unserer prähistorischen Vergangenheit entwirren”, sagt Johannes Krause.

Originalpublikation:

Iosif Lazaridis, Nick Patterson, Alissa Mittnik, Gabriel Renaud, Swapan Mallick, Karola Kirsanow, Peter H. Sudmant, Joshua G. Schraiber, Sergi Castellano, Mark Lipson, Bonnie Berger,, Christos Economou, Ruth Bollongino, Qiaomei Fu, Kirsten I. Bos, Susanne Nordenfelt, Heng Li, Cesare de Filippo, Kay Prüfer, Susanna Sawyer, Cosimo Posth, Wolfgang Haak, Fredrik Hallgren, Elin Fornander, Nadin Rohland, Dominique Delsate, Michael Francken, Jean-Michel Guinet, Joachim Wahl, George Ayodo, Hamza A. Babiker, Graciela Bailliet, Elena Balanovska, Oleg Balanovsky, Ramiro Barrantes, Gabriel Bedoya, Haim Ben-Ami, Judit Bene, Fouad Berrada, Claudio M. Bravi, Francesca Brisighelli, George B. J. Busby, Francesco Cali, Mikhail Churnosov, David E. C. Cole, Daniel Corach, Larissa Damba, George van Driem, Stanislav Dryomov, Jean-Michel Dugoujon, Sardana A. Fedorova, Irene Gallego Romero, Marina Gubina, Michael Hammer, Brenna M. Henn, Tor Hervig, Ugur Hodoglugil, Aashish R. Jha, Sena Karachanak-Yankova, Rita Khusainova, Elza Khusnutdinova, Rick Kittles, Toomas Kivisild, William Klitz, Vaidutis Kucinskas, Alena Kushniarevich, Leila Laredj, Sergey Litvinov, Theologos Loukidis, Robert W. Mahley, Bela Melegh, Ene Metspalu, Julio Molina, Joanna Mountain, Klemetti Näkkäläjärvi, Desislava Nesheva, Thomas Nyambo, Ludmila Osipova, Jüri Parik, Fedor Platonov, Olga Posukh, Valentino Romano, Francisco Rothhammer, Igor Rudan, Ruslan Ruizbakiev, Hovhannes Sahakyan, Antti Sajantila, Antonio Salas, Elena B. Starikovskaya, Ayele Tarekegn, Draga Toncheva, Shahlo Turdikulova, Ingrida Uktveryte, Olga Utevska, Rene´ Vasquez, Mercedes Villena, Mikhail Voevoda, Cheryl A. Winkler, Levon Yepiskoposyan, Pierre Zalloua, Tatijana Zemunik, Alan Cooper, Cristian Capelli, Mark G. Thomas, Andres Ruiz-Linares, Sarah A. Tishkoff, Lalji Singh, Kumarasamy Thangaraj, Richard Villems, David Comas, Rem Sukernik, Mait Metspalu, Matthias Meyer, Evan E. Eichler, Joachim Burger, Montgomery Slatkin, Svante Pääbo, Janet Kelso, David Reich & Johannes Krause:

Ancient human genomes suggest three ancestral populations for present-day Europeans. Nature, doi:10.1038/nature13673

Quelle/Text/Redaktion: www.uni-tuebingen.de

 

Parkinson: Sechs neue Risikofaktoren identifiziert

Tübinger Neurowissenschaftler haben gemeinsam mit internationalen Kollegen sechs bisher unbekannte genetische Risikofaktoren für die Parkinson-Erkrankung identifiziert. Die Basis der in „Nature Genetics“ veröffentlichten weltweit größten Meta-Analyse bildeten sieben Millionen genetische Variationen auf dem gesamten menschlichen Chromosomensatz.

Dafür untersuchten die Forscher DNA-Proben von 19.061 Parkinson-Patienten und 100.833 gesunden Personen europäischer Abstammung. Ziel war es herauszufinden, ob einige der natürlich vorkommenden Varianten bei Parkinson-Patienten häufiger vorkommen als bei gesunden Personen. Die Ergebnisse zeigen, dass sich das Risiko, an Parkinson zu erkranken, bei Vorhandensein mehrerer ungünstiger Genvarianten bis auf ein Dreifaches erhöhen kann. Die Identifizierung dieser Genvarianten gewährt einen besseren Einblick in die molekulare Entstehung der Krankheit und könnte zur Entwicklung neuer Therapiestrategien führen.

Insgesamt konnten die Tübinger Forscher um Professor Thomas Gasser vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) der Universität Tübingen und dem Tübinger Standort des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) 28 Risikofaktoren in 24 verschiedenen Genen identifizieren. Darunter waren auch die sechs neuen Risikogene. Eine der neu entdeckten Varianten hat, so die Annahme, Einfluss auf die Produktion wichtiger Botenstoffe im Gehirn, wie beispielsweise Dopamin. Bei Parkinson führt das Absterben der Dopamin produzierenden Nervenzellen in der Substantia nigra im Mittelhirn zu den charakteristischen Bewegungsstörungen. Von den neuen Erkenntnissen profitieren nicht nur die Autoren der Studie. Die gewonnenen Daten sind auch für alle anderen Forscher in einer Datenbank (dbGAP) zugänglich.

In einer weiteren Analyse haben die Neurowissenschaftler ein individuelles Risikoprofil für jeden Probanden erstellt. „Obwohl die Wirkung jedes einzelnen Gens gering war, zeigte unsere Risikoprofil-Analyse, dass ein wesentliches kumulatives Risiko besteht“, berichtet Claudia Schulte vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) der Universität Tübingen und dem Tübinger Standort des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE). Das heißt, dass für Personen, die die höchste Anzahl an Risikofaktoren haben, ein bis zu dreifach höheres Erkrankungsrisiko bestehen kann. Ein einzelnes Risikogen reicht jedoch nicht aus, um die Erkrankung definitiv vorherzusagen, so Schulte. Weitere Faktoren wie Umwelteinflüsse (Pestizide oder Schwermetalle) sowie familiär vererbte Mutationen müssen hierfür berücksichtigt und noch weiter erforscht werden.

Darüber hinaus untersuchen die Tübinger derzeit, ob die spezifische Zusammensetzung der entdeckten genetischen Risikofaktoren bei Parkinson-Patienten auch Auswirkungen auf den spezifischen Krankheitsverlauf hat. „Gelingt es uns, diese Zusammenhänge zu klären, kommen wir damit einer individuellen personalisierten Parkinson-Therapie ein Stück näher“, hofft Schulte.

Im Internet

  • Faktenblatt Parkinson
  • dbGaP
    The database of Genotypes and Phenotypes (dbGaP) was developed to archive and distribute the results of studies that have investigated the interaction of genotype and phenotype;

Originaltitel der Publikation

Large-scale meta-analysis of genome-wide association data identifies six new risk loci for Parkinson’s disease; Nature Genetics (2014) doi:10.1038/ng.3043; http://www.nature.com/ng/journal/vaop/ncurrent/full/ng.3043.html

Quelle/Text/Redaktion: www.uni-tuebingen.de

Männlich gesteuerte Prozesse in Frage gestellt

Lichtmikroskopische Aufnahme von Fadenwür-mern der Art Caenorhabditis remanei bei der Paarung. Die Würmer sind etwa einen Millimeter lang, das Weibchen – links im Bild – ist etwas größer als das Männchen. Aufnahme: Nadine Timmermeyer.
Lichtmikroskopische Aufnahme von Fadenwür-mern der Art Caenorhabditis remanei bei der Paarung. Die Würmer sind etwa einen Millimeter lang, das Weibchen – links im Bild – ist etwas größer als das Männchen. Aufnahme: Nadine Timmermeyer.

Als Koevolution wird die Evolution von Partnern in Abhängigkeit voneinander beschrieben. Möglicherweise kann ein Partner ohne den anderen nicht existieren, wie zum Beispiel Männchen und Weibchen derselben Art. Dennoch können sie widerstreitende Interessen haben, dann löst eine neue Erfindung oder Anpassung des einen Partners eine entgegenwirkende des anderen aus. In der sexuellen Koevolution stehen vielfach die Männchen unter besonders hohem Selektionsdruck – sie produzieren viel mehr Spermien als die Weibchen Eizellen und müssen sich in der gleichgeschlechtlichen Konkurrenz durchsetzen. Daher nahmen Wissenschaftler an, dass die Männchen in der sexuellen Koevolution mit Veränderungen vorpreschen und die Weibchen erst in der Folge mit eigenen Anpassungen reagieren.

Diese Hypothese von den männlich gesteuerten Prozessen haben Karoline Fritzsche, Dr. Nadine Timmermeyer, Mara Wolter und Professor Nico Michiels vom Institut für Evolution und Ökologie der Universität Tübingen in Experimenten mit dem Fadenwurm Caenorhabditis remanei überprüft. Zumindest bei den Würmern ließ sich die Hypothese nicht bestätigen. Ganz im Gegenteil: Die Weibchen erwiesen sich als schneller in der Anpassung an die Bedingungen in den Evolutionsexperimenten.

Männchen und Weibchen verfolgen in der Regel verschiedene Ziele bei der Paarung. Männchen produzieren mehr Geschlechtszellen als Weibchen und stehen im Wettbewerb um deren Eizellen. Sie haben Strategien entwickelt, um Mitbewerber auszuschalten und Weibchen zur Paarung zu bewegen. Häufige Paarungen wirken sich jedoch auf die Weibchen negativ aus. „Das ist auch bei den C. remanei-Würmern der Fall, ihre Fitness lässt nach“, bestätigt Nadine Timmermeyer. Durch die Selektion sind die Weibchen bevorzugt, die wirksame Strategien gegen die Manipulationen der Männchen entwickeln.

Um zu testen, welcher Partner ein solches Wettrüsten vorantreibt, haben die Tübinger Wissenschaftler experimentell Evolution erzeugt. Dabei kommt ihnen entgegen, dass die etwa einen Millimeter langen Fadenwürmer unter guten Bedingungen alle drei Tage eine neue Generation hervorbringen. In der ersten Phase des Experiments wurden die Würmer über 20 Generationen hinweg in zwei Gruppen einerseits einer angespannten sexuellen Situation ausgesetzt mit nur einem Weibchen auf fünf Männchen und andererseits einer entspannten Umgebung mit umgekehrtem Geschlechterverhältnis.

Die Konfliktsituationen sollen messbare Änderungen bei den Eigenschaften hervorrufen. In der zweiten Versuchsphase werden die Männchen und Weibchen verschiedener Selektionsvorgaben gekreuzt und die Fitness der verschiedenen Paarungen verglichen. Wenn Koevolution stattgefunden hat, sollten aus der Gruppe mit Weibchen in der Überzahl im Vergleich mit der mehrheitlich männlichen Gruppe weniger resistente Weibchen und weniger konkurrenzstarke, harmlosere Männchen hervorgehen.

„Im Experiment veränderten sich keine der erfassten Eigenschaften der Männchen wie etwa die Größe der Spermien, die Weibchen zeigten dagegen mehrere evolutive Veränderungen“, sagt Nadine Timmermeyer. Beim Paarungsakt verabreicht das Männchen dem Weibchen eine Art Schlafmittel. Die Weibchen, die zuvor einer Männchenüberzahl ausgesetzt waren, überwanden dessen Wirkung schneller. Außerdem erzeugten die Weibchen über ihre Lebenszeit gerechnet mehr Nachwuchs. „In einer sexuellen Konfliktsituation der C. remanei-Würmer evolvieren die weiblichen, nicht jedoch die männlichen Tiere ihre Reproduktionseigenschaften. Die Hypothese lässt sich daher nicht generell bestätigen“, fasst die Wissenschaftlerin die Ergebnisse zusammen.

Originalpublikation:

K. Fritzsche, N. Timmermeyer, M. Wolter and N. K. Michiels: Female, but not male nematodes evolve under experimental sexual co-evolution. Proceedings of the Royal Society B 20140942, DOI: 10.1098/rspb.2014.0942

Quelle/Text/Redaktion: www.uni-tuebingen.de

Biblische Ökosysteme widerstehen Dürrejahren

Wüstenpflanzen in Israel. Foto: Katja Tielbörger/Universität Tübingen
Wüstenpflanzen in Israel. Foto: Katja Tielbörger/Universität Tübingen

Die Ökosysteme des Nahen Ostens beherbergen eine weltweit einzigartige Artenvielfalt, darunter auch die Vorläufer der wichtigsten Nutzpflanzen. Doch die Klimaszenarien gerade für diese Trockengebiete sind alarmierend: In einer Region, in der bereits jetzt pro Kopf besonders wenig Wasser verfügbar ist, werden in Zukunft noch weniger Niederschläge erwartet. Dies könnte die Funktion dieser Ökosysteme sowie das Überleben wichtiger Arten bedrohen.

Ein Forscherteam unter der Leitung von Professorin Katja Tielbörger vom Institut für Evolution und Ökologie der Universität Tübingen hat in Israel Langzeitexperimente durchgeführt, um diese Prognosen zu testen. Über neun Jahre hinweg wurden die artenreichen Pflanzengemeinschaften künstlicher Trockenheit ausgesetzt, wie sie für die Klimaszenarien relevant sind. Auch die Auswirkung von höheren Niederschlägen als üblich untersuchten die Wissenschaftler. Sie wählten vier Ökosysteme entlang eines Trockenheitsgradienten aus, die von extremer Wüste mit 90 Millimetern Jahresniederschlag bis hin zu feucht-mediterranen Bedingungen bei 800 Millimetern Regen im Jahr reichten.

Es zeigte sich, dass entgegen der allgemeinen Annahme die untersuchten Ökosysteme auch nach neun Jahren kaum messbare Reaktionen auf die Niederschlagsmanipulationen zeigten, weder auf neun Jahre Trockenheit noch auf neun Jahre mit erhöhten Niederschlägen. Dies betraf die Artenvielfalt, die Zusammensetzung der Arten, deren Dichte und die Biomasse, welche für die Weidenutzung wichtig ist. „Somit muss die gängige Theorie, dass Trockengebiete besonders empfindlich auf den Klimawandel reagieren, revidiert werden“, sagt Professorin Katja Tielbörger, die Hauptautorin der Studie.

Als Grund für die hohe Resistenz der Systeme machten die Forscher die große natürliche Variabilität der Niederschlagsmengen in der Region aus. Die angesetzten Klimaszenarien – mit einer Abnahme der Niederschläge um etwa 30 Prozent – befänden sich noch innerhalb des natürlichen ‚Wohlfühlbereichs‘ der Pflanzen. Archäologische und biblische Hinweise deuteten darauf hin, dass die Region bereits seit langer Zeit einer hohen Klimavariabilität ausgesetzt sei. Die Ergebnisse legten die Forscherinnen und Forscher in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins Nature Communications vor.

Bei vielen Freilandexperimenten werden die Folgen von Bewässerung und künstlicher Trockenheit für die Pflanzen nur innerhalb der Feldstation mit unbehandelten Kontrollen verglichen. „Wir haben einen neuartigen Forschungsansatz gewählt: Durch die Lage des Experimentes entlang eines natürlichen Trockenheitsgradienten konnten die trockeneren Gebiete dazu dienen, den Einfluss des Klimawandels in der nächst feuchteren Station vorherzusagen“, erklärt die Forscherin.

Solche Vorhersagen beruhten bisher vor allem auf theoretischen Modellen, bei der neuen Studie wurden sie nun erstmals experimentell getestet – mit gegensätzlichem Ausgang als erwartet. „Unsere Studie ist weltweit eines der größten Freilandexperiment dieser Art, sowohl was die Zahl der Untersuchungsgebiete und die lange Untersuchungszeit angeht als auch die enorm hohe Artenzahl, die wir betrachtet haben“, sagt Katja Tielbörger. Die neuen Ergebnisse seien daher besonders verlässlich und belastbar.

Die Studie setzt den vorrangig düsteren Prognosen über die Auswirkungen des Klimawandels eine optimistischere Sichtweise entgegen, selbst wenn diese nur für die untersuchten Systeme gültig sein kann. Die Forscherin betont: „Unsere Ergebnisse sollen natürlich nicht dazu dienen, die Auswirkungen des Klimawandels zu verharmlosen. Sie sind aber entscheidend, um Investitionen für die Anpassung an den Klimawandel an der richtigen Stelle zu tätigen.“ Die Ökosysteme im biblischen Land könnten durch eine Klimaerwärmung weniger gefährdet sein als bisher angenommen.

Originalpublikation:

Katja Tielbörger, Mark.C. Bilton, Johannes Metz, Jaime Kigel, Claus Holzapfel, Edwin Lebrija-Trejos, Irit Konsens, Hadas A. Parag, Marcelo Sternberg: Middle-Eastern plant communities tolerate nine years of drought in a multi-site climate manipulation experiment. Nature Communications, DOI 10.1038/ncomms6102.

Quelle/Text/Redaktion: www.uni-tuebingen.de

 

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