Nicht immer sind sie jung und stammen aus osteuropäischen Ländern wie Rumänien, Bulgarien oder Ungarn. „Opfer von Menschenhandel können auch ältere Frauen aus der Bundesrepublik sein, die sich in einer Zwangslage befinden und dadurch zur Prostitution gezwungen werden“, sagt Prof. Dr. Rebecca Pates, Politikwissenschaftlerin an der Universität Leipzig. „Unser alltägliches Verständnis von Menschenhandel ist geprägt durch popkulturelle Phänomene wie Spielfilme, die allerdings mit der Realität in vielen Fällen nicht übereinstimmen.“ Pates forscht derzeit zum Thema „Menschenhandel im Lichte institutioneller Praktiken“ und vergleicht dabei Deutschlands und Frankreich.
„Wir wollen damit auch zur öffentlichen Debatte um Menschenhandel beitragen, indem wir die Diskrepanz zwischen politischen Regulierungsinstrumenten auf nationaler und internationaler Ebene einerseits und den konkreten lokalen Praktiken andererseits näher beleuchten“, erläutert Pates. „Bei der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Problematik stößt man von Beginn an auf ein irritierendes Paradox: Obwohl die Frage des Menschenhandels die internationale Debatte um die Bekämpfung der organisierten Kriminalität beherrscht und obwohl Menschenhandel durch den Kauf und Verkauf von Menschen und die Ausbeutung als eine der schwersten Menschenrechtsverletzungen gilt, werden nur wenige Fälle vor Gericht gebracht.“
Das dreijährige Forschungsprojekt wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und ihrem französischen Pendant Agence nationale de la recherche finanziert. 13 Wissenschaftler sind daran beteiligt, fünf davon aus der Bundesrepublik.
Juristisch kann in Deutschland für das strafrechtliche Verfolgen von Menschenhandel Paragraf 232 des Strafgesetzbuches herangezogen werden. Danach ist, um wegen Menschenhandel Ermittlungen gegen mutmaßliche Täter aufnehmen zu können, nicht notwendig, dass das potenzielle Opfer aus einem anderen Land stammen muss. Zumindest laut dem Gesetzestext ist es ausreichend, dass eine Zwangslage ausgenutzt wird. „Die Zwangslage wird dann oft so ausgenutzt, dass die Sexarbeiter gezwungen werden, Kunden anzunehmen, die sie eigentlich nicht wollen und Praktiken anzubieten, die sie ebenfalls nicht wollen“, sagt Pates.
Eine „Hilflosigkeit, die mit dem Aufenthalt in einem fremden Land verbunden ist“, ist ein zweiter Aspekt bei der Aufnahme von Ermittlungen; sie muss allerdings nicht zwingend vorhanden sein. „Das ist in Frankreich anders“, berichtet Pates, „dort ist es für den Opferbegriff erforderlich, dass die Prostituierte keinen französischen Pass besitzt.“ Ein weiterer Unterschied zu Frankreich besteht darin, dass die Ermittler dort öfter zu Methoden wie dem Abhören von Telefonaten oder dem Überwachen von Kontobewegungen greifen. In der Bundesrepublik ist jedoch der Zeugenbeweis notwendig: Die mutmaßlichen Opfer von Menschenhandel müssen also schon während der Ermittlungen der Polizei eine auswertbare Aussage machen. Sollten sie das nicht tun, etwa aufgrund der Angst vor ihren Menschenhändlern, können sie im Gegensatz zu Frankreich ausgewiesen werden.
Im Unterschied zu Frankreich sind daher Migranten, die Opfer von Menschenhandel sind, in Deutschland weniger aussagebereit. Sie könnten deswegen weniger häufig als Opfer anerkannt werden und für die Strafverfolgungsbehörden unsichtbar bleiben. Das Projekt wird also auch der Frage nachgehen, ob Frankreichs Statistiken mehr Menschenhandelsopfer mit Migrationshintergrund aufgrund der für Menschenhandelsopfer in Deutschland ungünstigen ausländerrechtlichen Bestimmungen aufweisen.
Die Wissenschaftler um Pates wollen sich deshalb Strafverfahren wegen Menschenhandels ansehen und mit Strafverfolgern von Staatsanwaltschaften und Polizei sprechen. „Wir wollen herausfinden, ob und wie der Paragraf 232 im konkreten Alltag der Behörden Anwendung findet. Generell ist die Polizei ja bemüht, Opfern von Menschenhandel zu helfen und die Täter zu überführen, sie berichtet aber auch, dass der Paragraf für die Ermittlungsarbeit große Schwierigkeiten in sich birgt“, berichtet Pates.
Der Beitrag zur öffentlichen Debatte um den Menschenhandel, den die Wissenschaftler des Projektes leisten wollen, könnte auch die Debatte um das Prostitutionsgesetz befruchten, das seit 2002 in der Bundesrepublik gilt und 2001 von der damaligen rot-grünen Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) verabschiedet worden war. Die gegenwärtige große Koalition von CDU und SPD unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat im Koalitionsvertrag von 2013 vereinbart, das Gesetz „umfassend“ zu überarbeiten. „Es existieren zum Beispiel keine empirischen Belege dafür, dass eine Verschärfung der Gesetze Menschenhandel verhindert“, schätzt Pates ein. „So einfach läuft das nicht.“
Sie verweist auf Schweden, wo Prostitution seit 1999 illegal ist und Kunden der Strafverfolgung unterliegen. „Die Prostitution gibt es in Schweden weiterhin, nur ist sie nicht mehr so stark öffentlich sichtbar“, berichtet Pates. Von Forderungen nach der Registrierung von Prostituierten bei der Polizei hält die Politikwissenschaftlerin nichts. „Das wäre ein Rückfall in das 19. Jahrhundert.“