Münster (lwl). Westfalen feiert in diesem Jahr seinen 200. Geburtstag: Mit der Konstituierung der preußischen Provinz Westfalen während des Wiener Kongresses 1815 wurde der Flickenteppich der westfälischen Territorien dem Königreich Preußen zugeschlagen. Fernab gängiger Bilder wie Schinken und Pumpernickel, Hermannsdenkmal und Wasserburgen oder wogenden Kornfeldern vor Zechentürmen war und ist die Region in den vergangenen 200 Jahren von zahlreichen Besonderheiten und Gegensätzen geprägt. Dazu zählten immer wieder auch politische, konfessionelle und soziale Konflikte. Im Rahmen des 200. Jubiläums der Region Westfalen veröffentlicht der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) eine Serie von Texten, die verschiedene Aspekte der Geschichte aufgreifen.
Vorreiter oder Nachzügler?
Ist die Wirtschaft Westfalens im Vergleich zu anderen Regionen der Bundesrepublik Deutschland ein Vorreiter oder Nachzügler? Die Arbeitslosenquoten liefern ein Bild mit großen Kontrasten: Der eher ländlich wahrgenommene Bezirk Coesfeld sticht positiv hervor und hat die Vollbeschäftigung nahezu erreicht. In regionalen Wirtschaftskreisen sieht man sich gern – in Anlehnung an die aufstrebenden Schwellenländer in Südostasien – als „kleiner Tiger“ im Münsterland, der für eine innovative Entwicklung steht. Im Gegensatz dazu hat die Industriestadt Gelsenkirchen im Zentrum des Ruhrgebietes eine der höchsten Arbeitslosenquoten in Westfalen, obwohl sich die Kommune in einem dynamischen Aufbruch sieht.
„Die Quoten sind nur Schlaglichter in einem ständigen und tiefgreifenden Wandlungsprozess in der westfälischen Wirtschaft der vergangenen 200 Jahre“, sagt Prof. Dr. Bernd Walter, Leiter des LWL-Institutes für westfälische Regionalgeschichte und Mitautor des Bandes „Westfalen in der Moderne 1815-2015. Geschichte einer Region“.
Frühe Industrialisierung
Die Region zwischen Rhein und Weser zählte jedoch zu denjenigen Räumen in Deutschland, in denen die Industrialisierung relativ früh begann. Die Agrarregionen im Münster- und Paderborner Land, der Hellwegzone und im Weserbergland überschnitten sich mit vier Gewerberegionen, der Leinen- und Baumwollregion des Westmünsterlandes, Minden-Ravensberg mit Flachsspinnerei und Leinenweberei, dem Märkischen Sauerland mit einem differenzierten Kleineisengewerbe und dem Siegerland mit dem Erzbergbau. Hinzu kam im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts eine Region an der Ruhr, in der oberflächennah Kohle und Raseneisenerze abgebaut wurden.
„Als sich im Zuge der Industrialisierung – durch Kohleabbau und Stahlproduktion im Gebiet an der Ruhr – die Provinz Westfalen zu einer der ökonomischen Vorreiter- und Boom-Provinzen des preußisch-deutschen Kaiserreichs und einem nationalen Wachstumsmotor entwickelte, beflügelte das auch die traditionellen Gewerberegionen“, betont der LWL-Historiker. Erst durch die Verklammerung von Textil-, Bekleidungs- und Maschinenbauindustrie mit der Montanindustrie konnte sich das Ruhrgebiet im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer Wirtschaftsregion von europäischem Format entwickeln.
Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich die Bevölkerungszahl in Westfalen und Lippe durch Geburtenüberschuss, vor allem aber durch Zuwanderung auf 3,4 Millionen Einwohner verdreifacht. Der Anteil der Landbevölkerung halbierte sich gleichzeitig auf 37 Prozent, der Anteil der landwirtschaftlichen Bevölkerung gemessen an allen Erwerbstätigen sank auf etwa 25 Prozent.
Höhepunkt in den 1950er bis 1970er Jahren
Die Trägerbranchen der Industrialisierung und das überregionale System von Zulieferung und Absatz erreichten in Westfalen in den 1950er bis 1970er Jahren ihren Zenit. Danach gerieten sie, vor allem aufgrund der günstigeren Arbeitskosten der ausländischen Konkurrenz, in eine Strukturkrise, die seit den 1960er Jahren in Westfalen zu einem drastischen Schrumpfungsprozess der altindustriellen Branchen führte.
Niedergang trotz Subventionen
Die ausgeprägte Subventionspolitik der Bundesrepublik und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), anfangs auch in der Textilindustrie, vor allem aber im Bergbau sowie der Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebiets konnte den Niedergang nicht aufhalten, wohl aber den Strukturwandel verzögern. Das Gewicht der Altindustrien und der nur mühsam in Gang kommende, auch durch Abwehrmaßnahmen der Montanindustrie behinderte Prozess der industriellen Erneuerung verzögerte in Westfalen die Umstrukturierung vom Industrie- zum Dienstleistungssektor, sodass dieser Raum wirtschaftlich gegenüber anderen Regionen der alten Bundesrepublik zurückfiel.
Anschluss an bundesdeutsche Entwicklung
Insbesondere in den schon sehr früh von der Textilkrise erfassten Räumen wurden in den 1960er und 1970er Jahren Maßnahmen zur strukturellen Erneuerung eingeleitet. Durch eine „nachholende Industrialisierung“ im Münsterland, im östlichen Sauerland und im Paderborner Raum konnte eine mittelständisch geprägte, inhabergeführte Kunststoff-, Chemie-, Möbel-, Elektro- und Maschinenbau- und Entsorgungsindustrie aufgebaut werden.
„Damit nivellieren sich innerhalb Westfalens die Differenzen zwischen den traditionell industriell geprägten und den ländlichen Regionen“, so LWL-Direktor Matthias Löb. „Der Kreis Coesfeld gilt dabei als Paradebeispiel für diesen gelungenen Strukturwandel in Westfalen. Und auch das Ruhrgebiet zeigt, wie sich einstige Problemgebiete allmählich erneuern, sodass die Wirtschaft Westfalens im frühen 21. Jahrhundert wieder Anschluss an die bundesdeutsche Entwicklung gewinnt.“
Hintergrund
2015 jährt sich die Konstituierung der preußischen Provinz Westfalen zum 200. Mal. Damit wurde erstmals ein politischer Raum mit klaren Grenzen, einer einheitlichen Verwaltungsorganisation und später einer politischen Stimme geschaffen. Das Gründungsjahr geht auf die Vereinbarungen des Wiener Kongresses zurück, der nach zwei Jahrzehnten Krieg und der Niederlage Napoleons eine territoriale Neuordnung Europas festlegte. Einen Tag nach seiner Schlussakte, am 10. Juni 1815, wurde die territoriale Neuordnung bestätigt. Bereits am 30. April 1815 hatte der preußische Staat die neue Organisation der Provinz Westfalen beschlossen. Dies ist der Beginn der Gründungsphase, die bis 1817 andauerte. Mit der Gründung Nordrhein-Westfalens am 23. August 1946 wurde die Provinz Westfalen nach dem Zweiten Weltkrieg aufgelöst und die Region zum Landesteil.
Karl Ditt (u.a.):
Westfalen in der Moderne 1815-2015. Geschichte einer Region
(Aschendorff Verlag)
864 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-402-13023-0
Preis: 29,95 Euro
Der LWL beteiligt sich außerdem an der Sonderausstellung „200 Jahre Westfalen. Jetzt!“ vom 28. August 2015 bis zum 28. Februar 2016 im Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte. Mehr zum Projekt unter: http://www.200JahreWestfalen.Jetzt
LWL-Einrichtung:
LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte